Schlittschuhlaufen bis zur Müdigkeit
Im Jahre 1927 zogen unsere Eltern mit mir, ich war 4 Jahre alt, und meinem zweijährigen
Bruder von der Brandenburgischen Straße in Südende in die Steglitzer Bismarckstraße 46 b in das
damalige, neu erbaute Hermann-Wiltz-Haus. Ich erinnere mich, daß unsere Wohnung noch nicht ganz fertig war.
Es gab eine wunderbare Aussicht bis zum Bahnhof Südende. Das ganze Haus hatte acht Aufgänge und jede
Wohnung eine Loggia zur Straße. Durch die Kellergänge kam man zum Hof. Dort gab zwei Buddelkisten für
uns Kinder, die durch hohe Büsche und Stacheldraht von den Rasenflächen getrennt waren, denn diese durften
nicht betreten werden.
Die alte Bismarckstraße. Foto: Sammlung Jörg Becker Immobilien
Genau vor der Tür, ziemlich am Anfang der Bismarckstraße, war die Endstation der Straßenbahnen
61 und 88, die dort rangieren mußten, um wieder in die Stadt zu fahren. Wir Bewohner hatten uns an das laute
Gequietsche gewöhnt, das die umständliche Rangiererei verursachte. Vor der Abfahrt klingelten die Schaffner
lautstark, und wer die Straßenbahn dennoch verpaßte, der konnte sie noch oben auf der Anhöhe beim
Hünensteig erreichen, wenn er sich beeilte, denn auch die Straßenbahn hatte Mühe, den Berg hinauf
zu kommen.
Oben auf dem Berg, in der Nähe des Wassertums, war auch unser Kindergarten. Durch die Albrechtstraße
fuhr eine Zeitlang ein O- Bus. Und den Omnibus 18 benutzten wir, wenn wir Besuch vom Bahnhof Zoo abholten. Hinten
hatte er eine freie Treppe und offene Aussicht. Wenn im Sommer der Eismann kam, dann rannten aus allen Eingängen
die Hausfrauen mit Schüsseln, um ein Stück Stangeneis für die Eistruhe zu kaufen, denn Kühlschränke
hatten wir damals noch nicht, Der Leinölmann offerierte sein frisches Leinöl vom Hof aus. Mutter kochte
gern Pellkartoffeln mit Leinöl und Quark, aber wir Kinder mochten das nicht so sehr. Am liebsten war uns der
Leierkastenmann. Wenn er kam, wickelten wir zehn Pfennig in Papier und warfen es ihm aus dem Fenster zu.
Viel Freude machte uns unser Vater, wenn er mit uns Kindern zum Teltowkanal ging und wir zusehen konnten, wie gemächlich
die Treidelbahn die Lastkähne durch den Kanal zog. Ein ganz besonderes Ereignis war, wenn die Ankunft des
Zeppelins angekündigt wurde. Jeder, der nur konnte, rannte auf die Rauhen Berge, um ihn majestätisch
daherschweben zu sehen, bis er auf dem Tempelhofer Feld landete.
Teltowkanal. Foto: Sammlung Jörg Becker Immobilien
Viele schöne Stunden verlebten wir auch in dem "Luft- und Schwimmbad Südende"
des damaligen Priessnitz-Vereins. Und im Winter wurde ein Tennisplatz kurz vor der Bergstraße zu einer herrlichen
Eisbahn umgestaltet, für alle ein Riesenvergnügen mit lauter Musik, Bratäpfelverkauf und gerösteten
Mandeln, vor allem aber mit stundenlangem Schlittschuhlaufen bis zur Müdigkeit.
Die unbeschwerten Jahre in der Bismarckstraße währten nicht lange. Am 1. September 1939 wurde der zivile
Luftschutz ausgerufen. Die Dachböden mußten geräumt und im Keller, der als Luftschutzraum dienen
sollte, Betten aufgestellt werden. Die Läden wurden wegen Hamsterei geschlossen.
Doch dies war nur der harmlose Anfang der Schrecken, die unserer Bismarckstraße bevorstanden. Der Krieg hat
sie und uns fast kaputt gemacht. Unser "Eisstadion" wurde zum Bunker umgebaut und fast zwanzig Jahre,
nachdem ich im Kindergarten "auf dem Berg" gespielt hatte, stand ich wieder dort, um zusammen mit anderen
jungen Mädchen mühsam mit den Händen, fast ohne Essen und in größter Hitze Schutt wegzuräumen.
Acht Stunden am Tag unter Bewachung.
Die Ring- Schule wurde zur Auffangstation für Bombenopfer. Ich hatte eine Rotkreuz- Ausbildung gemacht, um
mich nach jedem Luftangriff dort zu melden, mit allen den furchtbaren Erlebnissen dort, das werde ich nie vergessen.
Doch es gab viele selbstlose Hilfe in jener Zeit, die dazu beitrug, daß nach langen Jahren unsere Bismarckstraße
wieder ein Schmuckstück und eine unentbehrliche Verbindung in die Stadt wurde.
Eva- Maria Rossmanith, November 2005
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